Gnadenbild Oberthingau
In der Seitenkapelle der Pfarrkirche zu Oberthingau befinden sich seit zweihundert Jahren zwei Gnadenbilder aus Holz geschnitzt, die vom Volke hoch verehrt werden und wovon das eine den göttlichen Heiland am Kreuze und das andere die Gottesmutter Maria darstellt. Über die Auffindung dieser Bilder erzählt die Sage und berichten alte Aufzeichnungen, so auch eine Inschrift auf einer Tafel an der Wand der Kapelle, folgendes:
Im Jahre 1654 geschah es, daß einmal des Nachts bei dem Bauern Johann Frey ein fremder alter Pilgersmann Einkehr hielt und diesen aufforderte, im Vorzeichen der Pfarrkirche einen Ölberg zu errichten. Zu diesem Ende solle er zum Müller in der nahen Eschenau gehen und von demselben den Tuffstein, der am Hange oberhalb der Mühle sei, zu kaufen begehren.
Der Bauer tat dem so; allein der Müller zeigte sich nicht willfährig und wies ihn, so oft jener auch während der folgenden vier Jahre sein Begehren wiederholen mochte, stets barsch ab, ja verlachte und verhöhnte ihn sogar wegen seines frommen Vorhabens. Da erklärte der stets vergeblich Bittende endlich dem Müller, wenn er auf seinem Eigensinne weiterhin beharre und so das Unternehmen hindere, so werde er nach Aussage des fremden Pilgrims bald sterben. Allein der Müller lachte nur ob dieser Drohung und erwiderte, der Stein werde ihn doch wohl kaum erwürgen, und jetzt lasse er den Stein erst recht nicht her, und wenn ihm auch hundert Gulden dafür bezahlt würden. Es dauerte aber nicht lange, so ward der Müller im Walde beim Holzfällen von einer "Forche" (Föhre) zu Tode geschlagen und des Pilgers Prophezeiung erfüllt. Aber auch die Witwe, die wieder einen Mann Namens Balthus Merz nahm, blieb von weiterem Unglück nicht verschont, denn von den drei Kindern, die sie dem neuen Manne brachte, konnten die beiden ältesten noch mit acht Jahren kein Wort reden.
Da traf es sich, daß im Jahre 1666 der fremde Pilger wieder nach Thingau und in das Haus des Hans Frey kam. Er übergab ihm diesmal einen bayerischen halben Batzen, den solle er dem jetzigen Müller für den Stein anbieten und ihm eröffnen, wenn er zu dem Begehren einwillige, würden seine beiden Kinder die Sprache bekommen. Der Müller ging mit Freuden darauf ein und legte sogar den erlösten halben Batzen in den Opferstock der Kirche. Der eifrige Hans Frey aber machte sich nun in Gemeinschaft mit seinem Sohne Matthias und dem Jakob Scheiber an die Arbeit, und siehe da, während früher schon einmal bei einem gleichen Vorhaben, wobei man den Stein hätte zum Wiederaufbau des abgebrannten Wohn- und Wirtschaftsgebäudes des Andreas Einsle verwenden wollen, ihn die stärksten Männer nicht hatten vom Platze bringen können, konnten ihn diesmal die drei ganz leicht und mühelos heben. Als sie hierauf begannen, ihn zu verarbeiten und ihn entzweizusägen, kamen sie in der Mitte des Steines auf einen Hohlraum. Überrascht hievon vermuteten sie in demselben einen Schatz und griffen gierig in die Höhle. Doch was sie herausbrachten, war kostbarer als ein irdischer Schatz, war des gekreuzigten Gottessohnes und der Gottesmutter Bildnis, säuberlich in Holz geschnitzt und besonders das Muttergottesbild unversehrt und wohlerhalten, das Kreuzesbild etwas morsch. Ob dieses wunderbaren Fundes in ihrer Zuversicht gestärkt und in ihrem Eifer noch mehr angefeuert, hatten sie in kurzer Zeit den Ölberg vollendet, auf dem sie nun die beiden Bildnisse zur Verehrung aufstellten. Des Müllers Kinder aber konnten von da an, wie es der Pilger verheißen hatte, deutlich reden, also daß an ihnen, als den ersten, durch die Bilder Gottes Gnade und Wunder kund war. Seitdem waren sie stets Gegenstand großer Verehrung seitens des gläubigen Volkes, und durch sie fanden viele Bedrängte Hilfe und Rettung. Im Jahre 1684 wurden die Bilder auf den gegenwärtigen Platz in der neuangebauten Seitenkapelle verbracht, und durch den Zulauf von Hilfesuchenden von nah und fern wurde die Kirche zu einem besuchten Wallfahrtsorte.
Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 36, S. 43 - 45.