Christina Schlatter, St. Gallen ist Mitautorin des Buches "Quellen, Kulte, Zauberberge" Im nachfolgenden Beitrag beschreibt Sie den Steinkult allgemein und wichtige Kultsteine in der Ostschweiz. Die Bilder im Text beziehen sich auf Steine im Allgäu und Außerfern
Von sagenhaften Steinen
und
Sagen tradieren vorgeschichtliche Mythen und Kulthandlungen. Was über tausende von Jahren Bewusstsein und Handeln prägt hinterlässt Spuren bis heute. Steine haben Namen, sie weisen bestimmte Formen oder Körpereindrücke auf. Bei ihnen zeigen sich Schlangen und Schätze, man opfert auf Steinen, holt neugeborene Kinder darunter hervor. Tonnenschwere Findlinge lassen sich mit Leichtigkeit tragen oder drehen. In den Märchen werden Menschen in Steine verwandelt. Solche Motive entstammen frühen Epochen, sind jedoch überlagert von späteren Schichten, in denen sich Patriarchalisierungs- und Christianisierungsprozesse spiegeln.
Woher die Steine kommen
Die Steinverehrung reicht in die Jungsteinzeit zurück, entwickelt aus den paläolithischen Höhlenkulten. In flachen Gegenden baut man künstliche Höhlen und Hügel als megalithische Grabanlagen. Sie beherbergen die Verstorbenen eines Clans, dienen Kulthandlungen und astronomischen Messungen. Noch heute bleibt mancherorts rätselhaft, wie die tonnenschweren Blöcke über weite Strecken transportiert wurden. Wenn auch die Findlinge in den Alpengebieten nicht von Menschenhand an ihren jetzigen Ort gelangten steckt doch in mancher Sage diese Erinnerung mit drin. Steinsetzungen sind ein Werk von Generationen, eine „riesige“ Aufgabe zur Ehre der Grossen Göttin. Hinzu kommt die Vorstellung der Landschaft als Frau, naheliegend also, wenn sie Steine auf ihrem Rücken trägt.
In den Alpengebieten gibt es nur vereinzelt Steinsetzungen. Überall aber bieten imposante Steine und Findlinge natürliche Objekte, um von den Menschen beachtet zu werden. Weisen sie höhlenähnliche Vertiefungen, Durchschlupfe oder Löcher auf, können sie zu Ahninnensteinen[1] werden und den Eingang zur Anderswelt markieren. Zuweilen sind die Steine künstlich bearbeitet mit Schalen, Rinnen oder Kerben. Bärtige alte Gesellen sind Verstorbene, sie warten auf ihre Rückkehr ins Leben. Schätze verwandeln sich in der neuen Vegetationsperiode in blühende Felder, wenn sie von der erstarkenden Frühlingssonne bestrahlt werden. Das Regeli, die Winteralte, vollzieht ein Frühlingsritual, in dessen Verlauf vielerorts Weihegaben niedergelegt werden, wie archäologische Depotfunde unter Steinen belegen.
Steine markieren Grabstätten und Eingänge zur Anderswelt, dort entsteht gemäss den alten Wiedergeburtsvorstellungen neues Leben. An diesen regenerativen Orten des Erdschosses halten sich die Seelen der Verstorbenen auf, behütet von der Urahnin, der Weissen Frau, der Heiligen Verena. Durch Berührung mit dem Stein kommt es zu einer spirituellen Empfängnis, deshalb rutschen Frauen auf den Steinen. Eine Verbindung mit Wasser verstärkt die Symbolik. Unter Steinen hervorsprudelndes Wasser ist Lebenswasser aus dem Schoss der Ahnin-Göttin.
Aus dem Wiedergeburtsglauben wird auch verständlich, warum viele Steine heilende Wirkung haben. Ihre lebenschöpfende Kraft vermag Krankheiten zu überwinden.
Körperspuren im Stein
Im Stein verkörpert sich die Ahnin-Göttin selber oder ihr männlicher Partner, der als Kulturheros die Belange der Menschen und der Natur vertritt. In den Sagen wird sie zur wilden Frau, abgewertet zur Trude oder Hexe, er ist der Riese, der wilde Mann oder entsprechend dämonisiert der Satan. Der Heros manifestiert sich oft in Tiergestalt (Totemtier) als bocksfüssiger Teufel. Auch die Göttin zeigt sich zuweilen in Tierform, als Vogel, Kuh, Ziege oder Füchsin, davon zeugen die Spuren auf den Steinen. Sie verweisen auf göttliche Anwesenheit und vermitteln numinose Kraft.
Steine im Jahreskreis
Zeitangaben in den Sagen sind oft an jahreszeitlich relevante Daten gebunden. Die Benennung folgt christlicher Terminologie, dahinter verstecken sich heidnische Kultfeste mit astronomischem Bezug zu den Sonnenwenden und zum Bauernkalender. Der häufig genannte vierteljährlich wiederkehrende Termin Quatember oder Fronfasten entspricht Festdaten, die aus keltischer oder antiker Überlieferung bekannt sind. Hinzu kommen die grossen Sonnwendfeste an den Eckpunkten des Jahres, die heute christlich begangen werden. Für die Menschen sind solche Kultfeste von grosser Bedeutung, denn sie helfen, die Kräfte der Natur zu entfalten und die Fruchtbarkeit der Erde für die Acker- und Viehwirtschaft sicherzustellen.
Opfer- und Weihegaben
Dämonisierung, Christianisierung, Industrialisierung
Das Ausrotten des alten Glaubens hat System. Göttin und Heros werden dämonisiert (Hexe, Teufel), Kulthandlungen negativ benannt („Geisteraustreibung“), Kultsteine christlichen Heiligen zugeschrieben, in Kirchenbauten integriert oder verteufelt und mit Angst belegt. Noch die Moderne setzt diesen Trend fort. Steine sprengt man gewaltsam in die Luft oder versenkt sie meliorierend in den Boden. Bei Notgrabungen gelangen sie zuweilen ins Museum. Sagen und Überlieferungen? Aus dem Gedächtnis der Internet-Generation deleted. Sie wieder zu entdecken, könnte heilsam sein für die Natur und unsere Seelen.
Literaturauswahl:
Ötztal-Archiv (Hrsg.): Sagen und Geschichten aus den Ötztaler Alpen. Innsbruck 1997
Jantsch, Franz: Kultplätze im Land der Berge. Band V: Tirol, Südtirol, Vorarlberg. Unterweitersdorf 1995
Büchli, Arnold: Sagen aus Graubünden. Aarau (ohne Jahr)
Bloetzer, Hans: Steinalte Sagen aus Lötschen. Eigenverlag (ohne Jahr)
Schmalz, Karl Ludwig: Namensteine und Schalensteine im Kanton Bern. Bern 1988
Kuoni, Jakob: Sagen des Kantons St. Gallen (Nachdruck). Zürich 1986
Michel, Hans: Ein Kratten voll Lauterbrunner Sagen. Interlaken (ohne Jahr)
Rochholz, Ernst Ludwig: Schweizersagen aus dem Aargau. Aarau 1856
Halder, Nold: Aus einem alten Nest. Sagen und Spukgeschichten aus Lenzburg. Aarau 1923
Göttner-Abendroth, Heide: Die Göttin und ihr Heros. München 1997
Christina Schlatter
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