Tiroler Sagenwelt
Margareta Fuchs und Veronika Krapf sind die Autorinnen des einfühlsamen Buches "Von wilden und weisen Frauen" 150 geheimniswolle Frauen-Sagen aus Tirol, erschienen im Loewenzahn Verlag.
Ein Exkurs in die Tiroler Sagenwelt
Das im Herzen der Alpen gelegene Tirol war mit seinen Passübergängen von jeher ein wichtiges Durchzugs- und Verbindungsland. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass verschiedene alte Kulturen hier ihre Fußabdrücke hinterlassen haben, und so lassen sich auch in den TirolerSagenfiguren unterschiedlichste Spuren dieser Völker erkennen, wie rätische, venetische, römisch/mediterrane, etruskische, keltische und germanische. Auffallend sind die Parallelen zu den Mythenfiguren anderer Völker und Kulturen.
Von seltsamen und geheimnisvollen Wesen erzählen zahlreiche Tiroler Sagen. Besondersfacettenreich sind die Frauengestalten in der Tiroler Sagenwelt, auf die wir in unserem Beitrag den Schwerpunkt setzen wollen. Aus Platzgründen werden hier nur einige Beispiele zu den Tiroler Frauengestalten genannt:
Stampe/Stempa oder auch Percht/Berchta:
sie tritt in den Tiroler Sagen als Seelenführerin, als Fruchtbarkeitsgöttin, als Anführerin der Wilden Jagd, als göttliche Aufseherin im landwirtschaftlichen Leben (Spinnen, Weben, Ackerbau usw.) in Erscheinung. Um sie gütig und freundlich zu stimmen, wurden ihr vor allem in der Nacht vom 5. auf den 6. Januar Speiseopfer dargebracht; in Haus, Stall und Hof musste ihr geräuchert werden.
Diese Nacht hieß vielerorts „Stampennacht“. Die Angst vor der schrecklichen „Berchte“ war früher so groß, dass man sich in dieser Nacht kaum ins Freie wagte, ja sich nicht einmal getraute, laut zu reden. Wer husten musste, tat dies in den „Mohn-Stampf“ hinein, um das Geräusch abzudämpfen. Im letzten Jahrhundert wurde aus der „Stampennacht“ die „Hl.-Drei-König-Nacht“, deren Namen (C-M-B) nunmehr bei der nächtlichen Räucherung als Schutzritual auf Haus- und Hoftür geschrieben wird.
Trute/Trude:
Sie kommt nachts an die Betten der Schlafenden und drückt sie fast zu Tode. In einigen Gegenden ähnelt sie einer verwandlungsfähigen Vampirin, die ihren Opfern das Blut aussaugt. Der Drang des Drückens ist ihnen angeboren, da sie entweder in einem bestimmten Zeichen das Licht der Welt erblickten oder die Wehmutter sich eines Zaubermittels bediente oder die Mutter bei der Geburt den Teufelsnamen anrief.
In abgelegenen Tälern des Trentino, das bis vor ca. 100 Jahren ein Teil Tirols war, haben in den Sagen die „Smàre“ überlebt: große, schwarz gekleidete Frauen erscheinen des Nachts an den Betten schlafender Menschen, um sie zu ersticken. Einen ähnlichen Namen trug auch die baskische Todesgöttin: nämlich Màri.
Unzählige Schutz- und Heilmittel haben in Tiroler Volksmedizin und Aberglauben überlebt, um sich gegen diese schauerliche Frauenfigur zu schützen.
Selige oder Salige:
Unter vielen Namen in der Tiroler Sagenwelt bekannt ist die Selige oder Salige, das Wilde Fräulein oder die antrische Dirn, Gana oder Vivana…eine Art „göttliche Magd“.
Ihr Wirkungsfeld ist vielschichtig und geheimnisvoll. Sie überbringt den Menschen neues Wissen (z.B. wie man Käse herstellt oder wo wertvolle Bodenschätze lagern) und hilft ihnen aus großer Not. Sie ist Herrin der Tiere (vor allem die Gämse ist ihr Schutz- und Begleittier), aber auch Taube, Adler und Schlange sind an ihrer Seite zu finden. Seltsame Sagen von Schlangen und Schlangenköniginnen haben in der Tiroler Sagenwelt und weit darüber hinaus überlebt.
Mit diesen Tieren traten einst auch die mächtigen Göttinnen des alten Europas in Erscheinung. Somit könnte man behaupten, dass diese Göttinnen im Herzen der Alpen zumindest in den Volkssagen „überlebt“ haben: zurückgedrängt in die unberührte Natur, in die Tiefen der Wälder, in unwegsame Täler und Steinhalden.
Hexe:
Viele Tiroler Sagen handeln vom Wesen und Wirken der Hexe.
In diesen Geschichten ist erkennbar, wie im Laufe von Jahrhunderten aus der einstmals hochgeschätzten Weisen Frau die gefährliche Hexe wurde, die es zu bekämpfen galt. Doch kann im Sagenkern oftmals weibliches Schamanentum erahnt werden und große Angst vor ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten. Viele Tiroler Sagen ranken sich um ihre unglaubliche Verwandlungsfähigkeit und um nächtliche Ausritte: dies deutet darauf hin, dass auch dieTiroler Hexe auf ihren Ausflügen möglicherweise ihre Seele auf die Reise schickte um mit denkosmischen Kräften und den Geistmächten in Verbindung zu treten.
Fangga:
Eine andere faszinierende, kaum mehr bekannte Gestalt in der Tiroler Sagenwelt ist die Fangga: ein grauenerregendes Riesenweib, über und über borstig behaart, im Besitz übermenschlicher Kräfte. Ihr Leben ist an Bäume oder Wälder gebunden. Wird ihr Baum/Wald gefällt oder gerodet, verschwindet auch die Fangga.
Auch diese Sagen weisen in die Zeit des Beginns der Christianisierung zurück. Fanggen dienen oft als Mägde bei den Menschen, doch wollen sie von christlich-religiösen Dingen nichts hören, haben Scheu vor Gebeten und Glockengeläute.
Die Fanggen erinnern an die Dryaden in der griechischen und römischen Mythologie. Auch deren Leben war an das Leben von Bäumen gebunden. Kein Baum durfte gefällt werden, ohne vorher die Baumnymphen anzurufen. Geschah dies doch, wurde der Frevler grausam bestraft
Eine ähnliche Sagengestalt ist die Bregostàna in einigen ladinischen Tälern. Sie ist in der Wildnis zuhause und kann mitunter Mensch und Tier sehr gefährlich werden. Am liebsten ernährt sie sich von dem Gedärme ihrer Opfer. Ähnliches wird manchmal auch der Hekate nachgesagt.
Heilige und Heiligenlegenden:
Mit der Konsolidierung des Christentums traten auch in Tirol christliche Heilige an die Stelle vorchristlicher Gottheiten. Interessant und spannend sind deshalb auch die Heiligenlegenden, denn häufig scheinen sie ÜberlieferungsträgerInnen uralter Mythen zu sein.
Viele dieser Geschichten lassen Zeiten erahnen, in welcher das Wissen um die Bedeutung des Weiblich-Göttlichen allgegenwärtig und eine tiefe Verbundenheit zur Natur und zu allen ihr innewohnenden Wesen noch selbstverständlich waren.
Überhaupt spielen die weiblichen Heiligen in Tirol eine wichtige Rolle: in den 280 Südtiroler Pfarreien sind 100 Kirchen heiligen Frauen geweiht, viele davon stehen auf alten Kultorten. Als Beispiel sei die Kirche von Meransen bei Mühlbach genannt. Hier werden seit Jahrhunderten die Hl. Drei Jungfrauen Aubet, Cubet und Quere verehrt. Bei Restaurierungsarbeiten vor ca. 10 Jahren wurde im Erdinnern unter der Kirchenmitte ein (Kult)Felsen gefunden, an welchem links und rechts ein Wasserrinnsal vorbei geflossen ist.
Besonders die Verehrung Mariens tritt in Tiroler Sagen und Legenden mit Wasser-, Baum- und Bergkult in Erscheinung. Marienbildnisse sind laut Legenden oftmals in Bäumen „gewachsen“ („Kaserererbild“ bei Gummer/Steinegg; Maria Waldrast bei Matrei); aus der Erde gepflügt (z.B. Maria Saalen bei Bruneck); auf Bergeshöhe zu finden (Unsere Liebe Frau auf der Brettfall/Zillertal) oder in Wassernähe/Sumpf (Schmerzhafte Muttergottes von Riffian/Passeiertal; Maria vom Moos in Bozen, Unsere Liebe Frau im Walde am Deutschnonsberg).
Magisches Tirol – einige Beispiele
In ganz Tirol gab es als „heilig“ geltende Bäume, oft auch „Betbäume“ genannt. Ein solcher befand sich z.B. bei Nauders in Nordtirol, in der Nähe vom Reschen, dem heutigen Grenzübergang zwischen Südtirol/Italien und Nordtirol/Österreich. Die Verehrung dieser doppelspitzigen Lärche auf dem „Heilig-Baum-Boden“ war so groß, dass auf diesem Ort weder geflucht, gelärmt noch gestritten werden durfte. Unter dem Baum stand ein heidnischer Opferaltar, welcher laut Überlieferung vom Hl. Valentin, Missionierungsbischof der Räter (gestorben 475) zerstört worden ist. Der Baum selbst wurde erst im 19. Jh. gefällt.
Ein anderer heiliger Baum steht z.B. am sagenhaften Birchboden oberhalb Lengstein am Ritten. Mit der Seele dieser uralten Lärche stand laut Sage eine hier wohnende Seherin in Verbundenheit. Laut Volksüberlieferung trafen sich auch die Hexen hier zu gemeinsamem Tanz, Mahl und feuerkultischen Ritualen; für Männer war die Teilnahme allerdings „tabu“. Auch eine „Felsenrutsche“ befindet sich hier.
Viele Tiroler Sagen stehen mit einem klar benannten Ort, Berg, Gewässer, Schloss usw. in Zusammenhang. Solche Erzählungen erweisen sich oft als Wegweiser zu außergewöhnlichen und geschichtsträchtigen Plätzen, zu christlichen und vorchristlichen Kultorten.
In jedem Alt-Tiroler Tal sind solche Sagen und Plätze seit Jahrhunderten überliefert.
Der Schlern beispielsweise ist in der Sagenwelt einer der berühmtesten Hexentanzplätze Tirols, gleichzeitig eine uralte heilige Kult- und Brandopferstätte. Weiheopfer von der Bronze- bis in die Römerzeit wurden hier gefunden.
Viele Tiroler Berge galten bei den Einheimischen seit jeher als Sitz von Gottheiten oder Geistern: so ist der höchste Berg Südtirols, der Ortler im Vinschgau, laut Sage Thron der heidnischen Götter.
In einer Dolomitensage wird von der Wintergöttin Samblàna auf dem Antelào im ampezzanischen Dolomitengebiet erzählt…
Zum Abschluss:
Mithilfe der Tiroler Sagen können wir gleichsam durch ein Fenster blicken in weit zurückliegende Zeiten und erhalten einen kleinen Einblick in die Gefühls-, Gedanken und Vorstellungswelt der AlpenbewohnerInnen.
Neben archäo-mythologischen Erkenntnissen wird in der Auseinandersetzung mit den Tiroler Sagenaber auch der Zusammenhang mit anthropologischen und psychologischen Themen deutlich. Archetypische Bilder, die menschlichen Ursymbole, und existenzielle Fragestellungen spielen auch in den Tiroler Mythen und Sagen eine zentrale Rolle. Religiös-spirituelle Themen wie Sinn des Lebens, Er-lösung, Verwunschensein, Sühne, Schuld und Bestrafung erhalten viel Raum ebenso wie „er-lösende“ menschliche Eigenschaften wie beispielsweise Authentizität, Mut, Mitgefühl mit dem Schwächeren, Entschlossenheit, Unschuld.
Sagen spiegeln die moralischen und religiösen Wertevorgaben einer Gesellschaft wider. In der Tiroler Sagenwelt, aber auch andernorts, finden sich viele Geschichten von Frauen, welche für das Ausleben ihrer Sinnlichkeit und Lebenslust teuer büßen müssen. Die patriarchal geprägte Gesellschaft darf sogar in der Welt der Sagen behaupten, dass besonders Frauen durch den „Leibhaftigen“, den Teufel, gefährdet sind.
Solch gesellschaftspädagogische Botschaften machen deutlich, dass möglicherweise massive Repression auf allen Ebenen nötig war, um die einstige Macht und Bedeutung des Weiblichen zu bekämpfen, zu untergraben und zu zerstören.
Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass nicht alle Sagen uralt sind: viele sind im Mittelalter entstanden und noch später. Jede Generation, die das alte Sagengut weitererzählt und weitergegeben hat, hat es mit eigenen Erlebnissen verknüpft und ergänzt und dadurch auch immer wieder aufs Neue belebt.
Abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, dass bei der Erforschung von Sagen Vorsicht geboten ist hinsichtlich Deutung und Interpretation: in der Vergangenheit wurden z.B. viele Sagenelemente auf den germanisch/nordischen Mythos zurückgeführt, derzeit hat sich der Schwerpunkt auf „das Keltische“ verlagert.
Die Welt der Sagen und deren Hintergrund ist jedoch, zumindest in Tirol, viel komplexer. Auch die Auslegung von Tiroler Orts- und Eigennamen durch AutorInnen des deutschen Sprachraums ist oft unvollständig und teilweise willkürlich. Daraus erfolgende Zuordnungen zu bestimmten Figuren oder Kulturen entbehren mitunter der wissenschaftlichen Korrektheit und müssen in die Ebene des rein Spekulativen verlegt werden.
Neben der wissenschaftlichen Recherche ist die Vertiefung der Sagenthemen auf emotionaler Ebene von größter Wichtigkeit. Die „Sagenbotschaft“ und die Energien von sagenhaften Plätzen können oftmals erst durch das Verweilen an solchen Plätze erfahren werden.
Vor allem aber darf nicht vergessen werden, dass nicht Alles mit Verstand und Logik erklärbar ist.